Zelt-Asyl für Gegenstände
Dinge, die sich vom Menschen entfernen, absondern, abschirmen, die Flucht ergreifen. Benutzte, zerstörte, im Stich gelassene Minderheiten, die in der reproduzierten Wirklichkeit unserer Zeit im Provisorium Berlin eine befristete Unterkunft erhalten. Und Unterkunft bedeutet Minderheitenschutz. Ein Gehäuse für Hilfsbedürftige, Zwischenstation und Asyl: Existenzräume zum überdauern und überleben. Und was könnte Trennung und Anonymität besser aufnehmen als ein Bahnhof. Der Raum für Ankunft und Abschied, für Anfang und Ende.
Hier ist es die verwahrloste und abstoßend wirkende Halle des S-Bahnhof Schöneberg, die man nur mit Widerwillen betritt: 160 Meter lang, 15 Meter breit und 8 Meter hoch. Mit Drahtglas umkleidet und von 12 quer verlaufenden Winkelträgern überdacht. An beiden Längsseiten ein verrosteter Schienenkörper. Vereinzelte Birken und aufgehäufter Taubenkot. Ab und zu rangierende S-Bahnzüge und DDR-Loks. In der Mitte der Halle zwei verschlossene Rolltreppen, mit Spanplatten vernagelt. Ein ungenutztes, grün- und weißgekacheltes Stationsgebäude. Darauf ein Schild: Richtung Osten (über Papestraße), Richtung Westen (über Westkreuz). Und was könnte die Utopie eines Aufbruchs sinnvoller darstellen, als dieses Entscheidungsschild: Die Kulisse einer provisorischen und befristeten Teilung.
Eine Teilung der Lebensräume. Und auf den Betonfliesen dieser Bahnhofshalle die 16 Zelte von Paul Pfarr: Jedes 5 Meter lang, 4,75 Meter breit und 2,50 Meter hoch. 6-Mann-Zelte für Jugendlager. Naturweiße Zelthäute, die der Berliner Senat für Jugend und Sport Paul Pfarr für seine Installation zur Verfügung gestellt hat.
Und darin seine Paare. Hoffnungspaare, Verzweiflungspaare. Opferpaare. Orpheus und Eurydike. Traum der Flüchtenden und Liebenden. Eine provisorische Zwischenstation der Gegenstände und der Kunst, die hier ihre musealen Ausstellungsstrukturen durchbricht und sich ihre eigenen autonomen Schutzräume schafft. Paare als Minderheiten. Und Räume, die sich vom Menschen entfernen, absondern und abschirmen. Sich den Menschen verweigern. In den Zelten jeweils eine Baulampe, das Notlicht einer provisorischen und befristeten Lebenssituation.
Walter Aue, 19.12.1988