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Windkanter I

149 Granit-/Gneis-Windkantensteine, 1991-93, Feld ca. 10 x 3 m

Der Stein als Medium der Reflexion. Als Objekt der Mytho­logie, als magisches oder astronomisches Zeichen. Ein Ord­nungszeichen, das noch heute zu den Wundern der archa­ischen Welt gehört. Bedeutungsträger und kultisches Sym­bol seit Menschengedenken.

Der Stein als ältestes Indiz für die Teilbarkeit der Welt. In große, gigantische Blöcke, in kleine Brocken, Splitter, Kru­men, Staub. Die Aufteilung der zertrümmerten Erdkruste in skulpturale Einzelstücke. Und was uns betroffen macht, ist ihre unübersehbare Artenvielfalt. Ihre ausschließliche Einmaligkeit. Ihre räumliche Orientierungslosigkeit. Ihr Millionen-Alter. Ihre Reglosigkeit und ihre unübertroffene Schweigsamkeit, die die Mechanik unserer Phantasie immer wieder aufs neue in Bewegung setzt. Ins Kontem­plative verlagert.

Die Windkanter sind hier zu einem Steinfeld ausgerichtet, das Paul Pfarr als Bodenskulptur bezeichnet. Bestehend aus den seriell geordneten Varianten eines bestimmten Prototyps. Der Stein des Anstoßes war eine Pilzsuche in der Mark Brandenburg, bei der Paul Pfarr zufällig mehrere ver­einzelte Steine entdeckte: Granit, Gneis und Basalt, die alle verschieden geformte Schnittkanten hatten, obwohl sie nicht von Menschenhand bearbeitet worden waren. Und dies war der Anfang einer Suche, die sich über· mehrere Jahre erstreckte und heute noch anhält. 

Inzwischen weiß Paul Pfarr, dass es Schliffkanten sind, die über Millionen Jahre hinweg vom Wind und dem darin enthaltenen Sand geschliffen wurden. Und es gibt Zwei­kanter, Dreikanter oder Vielkanter. Spatenförmige oder kugelförmige. Ehemals unter den Endmoränen der letzten Eiszeit von Norden heruntergeschoben und mit einem ge­waltigen Schub nach Süden gepreßt. Und jeder Stein der erste Stein vom Rest unserer verbliebenen Erdkugel.

Denn alles Felsgestein ist aus der Zellteilung des gleichen ungeheuren Urahnen hervorgegangen, als bei der langsa­men Katastrophe des Erkaltens die äußere Steinhülle der Welt in Trümmer zerbrach: ein verfehltes, verdrängtes, abge­tötetes Leben.

„Fangt an zu reden, denn wenn ihr nicht redet, beginnen die Steine zu reden und das wird fürchterlich“, sagte ein­mal Dionysos. Ein Ausspruch, der angeblich zur Geburt der Philosophie beigetragen haben soll. Und seit dem Erkal­ten, dem Auseinanderbrechen des Erdballs schweigen die Steine! Oder besser: seit ihrer Vertreibung, seit ihrer letz­ten urzeitlichen Wanderung unter den Eismoränen, geben sie keinen Laut mehr von sich. Kein Wunder, dass das Impe­rium der Steine ein rätselhafter, geheimnisvoller Bereich blieb. Daran ändern auch nichts die nachträglichen Stein­häufungen von Stonehenge, Carnac oder Malta, die die unbegreiflichen Drehungen und Faltungen des erkalteten Planeten in ihrer Weise zu deuten versuchen.

Walter Aue, aus: Orte. Gegenstände. Paul Pfarr, Seite 36