Alles ist Erscheinung. Der Schein dessen, was sich längst verflüchtigt hat: das Fossil einer Botschaft, die es zu entziffern gilt. Was bei den neuen Arbeiten von Paul Pfarr besonders ins Auge fällt, ist die engagierte Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten: die vierte Dimension, die Zeit. Abbild und Urbild der Zeit sind die sichtbaren Spuren menschlicher Handlungsweisen. Die visuelle Partitur konkreter Ereignisse.
Eine der unaufwendigsten, aber schmerzlichsten und düstersten Installationen ist das aus Schießschablonen bestehende Gruppenbild. Benutzte, vielfach durchlöcherte Silhouetten von kauernden oder stehenden Menschen, Panzern oder Spähwagen. Tafeln aus Stahlblech, die die Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee provisorisch mit Tarnfarbe bestrichen hatten und während ihrer Ausbildung als Schießscheiben verwendeten.
An diesen, von Paul Pfarr auf dem früheren Übungsgelände der NVA in Güterfelde gefundenen Schablonen wird in überscharfer Deutlichkeit sofort erkennbar, dass der damalige „Schießbefehl“ mit scharfen Schüssen jahrelang geprobt wurde. Paul Pfarr hat etwa 50 solcher „Pappkameraden“ – die weder aus Pappe sind noch als Kameraden behandelt wurden – 1991 für etwa eine Stunde auf die Granitstufen des Reichstags gestellt. Auf dem Giebel der Vorhalle die Inschrift „Dem Deutschen Volke“. Und hier standen sie: Schablonen zur Menschenvernichtung. Flüchtige Schattenwesen, deren Existenz vom Lauf der Geschichte, längst überholt wurde. Die Einmischung in den Zeitgeist als eine symbolische Form des Gedenkens, als ein Versuch, schuldbeladene Wirklichkeit so zu verarbeiten, daß vorübergehend eine Symbiose von Skulptur und architektonischem Umraum entsteht .
Das Gruppenbild als eine mobile Innen- und Außeninstallation, die in wechselnden, geschichtsbelasteten Stadträumen untergebracht werden kann: austauschbare, ortlose
Orte, an denen üblicherweise beliebige Schulklassen und Touristen possieren. Aber wie jedes andere Erinnerungsfoto ist auch dieses makabre Gruppenbild kein verläßliches Indiz für die Uneindeutigkeit eine Zeit, die inzwischen längst verdrängt wurde.
Walter Aue, aus: Orte. Gegenstände. Paul Pfarr, Seite 33, ISBN 3-929 902-59-1