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Der-Rest,-1977,-linearer-Aufbau-Atelier,-Foto,-4371

Der Rest – Hommage à Orwell

Eisen, verzinkt und gebeizt, Bleiguss, Normaluhr, 1975–77, je Spind 190 x 30 x 45 cm,
im Besitz des Skulpturenmuseums Marl

„Der Rest“ heißt ein 12+1-teiliges raumfüllendes Objekt von Paul Pfarr.

Es stehen da gegeneinander zueinander gekehrt und dann doch (offenbar im Elend) verbunden 12 spindähnliche Kästen. Ein vergleichsweise anthropomorphes Maß schafft zwischen ihnen relative Identität; jedem Kasten ist ein jeweils „individuell“ erscheinendes Händepaar verbunden – das Ganze erscheint als Reduktion der Gattung Mensch. Technokratisch eingedost. Gesichtslos. An die Stelle von Physiognomien, von Gesichtssinnen und -zügen sind verloren wirkende, typische Gesten von zum Teil gefesselten Händen getreten: Gebärden von Resignation, Angespanntheit, Aufbegehren, Leiden …

Zu diesem 12er-Ensemble gehört ein weiteres Teil: eine Normaluhr mit verbleitem Rand. Ihr kreisender Sekundenzeiger signalisiert „Leben“, ein In-der-Zeit-Stehen und die schweigende Statuarik der 12er-Gruppe zeigt also auf ein Enden auf Vergänglichkeit.

Ein Totentanz, ein Memento mori, 1978. Ein altes Thema neu. Mittelalterlich-ständisches und allegorisches Beiwerk fehlen. Die Menschheit, vertreten von und in diesen Abgesandten, stirbt einen doppelten Tod: den alltäglichen, (den wir angestrengt verdrängen) und den psychischen oder gewaltsamen, (den wir uns in technokratischer Gegenwart selber bereiten). Einen schlichten menschlichen Vorgang übersetzt Paul Pfarr offenbar wütend und leidend, dass Lebensumstände so sind, in die einfach durchdachte Setzung eines gestalteten Objektes. Dieses Objektzeichen ist „wörtlich“ zu nehmen: Die traurigen Roboter markieren, was übrig bleibt, wenn Geschichte nicht fortschreitet in dem Bewusstsein, dass Freiheit ist und sein soll.

Dieses Markieren geschieht ernst – die aus Fabrikspinden von Pfarr entwickelten „fuß“-losen wie in ihrer Umrissführung verfremdeten Objekt-Spinde trippeln nicht in choreografischer Ordnung daher; sie stehen da – Karytiden von nichts …

Die 12 Kästen sind frei platziert, ich möchte behaupten: Sie füllen, definieren jeden Raum, bleifarben erscheinen sie uniform, nicht militärisch. Überkommende Strukturen – die mystische Zahl 12, eine mögliche stonehenge-ähnliche Anordnung der Objekte – verbinden sich mit aktuellen Gegebenheiten. „Der Rest“ steht dafür, dass und wie metallische, perfekte Technologie und um ihr Eigentliches gebrachte menschliche Existenz gleichzeitig und aufeinander bezogen da sind. Ein Denkmal, eine Hommage à Orwell – an Objekten erfunden und aus geformten Gesten entwickelt.

Natürlich gibt es auch für Pfarr „Muster“, ohne deren Provokation Kunst nicht gemacht werden kann, ich denke, die „Bürger von Calais“ – vor beinahe 100 Jahren von Rodin gemacht – sind für ihn ein derartiges Muster, oder die Objektwelt, die Ed Kienholz in ganz anderer Methode als Pfarr zusammenstellt.

Die Teile des pfarr’schen Objekts fügen sich zu einer „stillen“ Einheit, die umso nachdrücklicher das Beobachten und Nachdenken fordert, als sich keine glatte, ästhetisierende Attitüde zwischen Betrachter und Objekt schiebt. Die Betroffenheit, die von Paul Pfarrs Objekt ausgeht, bettet und verdinglicht er in eine ihr angemessene Gestaltung. Kein Entrüstungs- oder Mitleidspathos. Keine Besserwisserei. Kein plakativer Gestus. Der Ausdruckswille Pfarrs überträgt sein Erschrecken über das So-sind-wir in eine künstlerische, visuell erfahrbare, im Objekt aufgehobene Strukturformel. Diese Formel ist zugleich eindeutig und offen. „Eindeutig“, weil sie unverrückbar feststellt: So zu existieren, wie die Kästen markieren, ist nicht menschlich. „Offen“, weil der Betrachter diesen Sinn zwar nicht aufheben oder ins sadistische Gegenteil umkehren kann, „offen“ also, weil die Herausforderung zu – betroffenem – gedanklichen Durchspielen da ist. Dialog: „Was macht er? Er weint. Also lebt er“ (Samuel Beckett). Die von Pfarr hingestellten Einzelteile bleiben unnahbar. Schulterklopfen verbietet sich. Der Betrachter steht, geht zwischen den festgebannten „Resten“, die – das erkennt er vielleicht – als endliche Summe seiner Existenz erscheinen.

Hermann Wiesler

 

In: Ausstellungskatalog, Galerie Thomas Wagner, ehem. Schlüterstraße 53, 10629 Berlin